Hannah Arendt, eine der bedeutendsten politischen Theoretikerinnen des 20. Jahrhunderts, ist vor allem mit ihrer Untersuchung zum Eichmann-Prozess in Jerusalem bekannt geworden und prägte den Begriff der “Banalität des Bösen”. Nach dieser Veröffentlichung wendete sie sich jedoch den Möglichkeiten des Guten zu und skizzierte eine neue Konzeption des Gewissens als einen Raum, in dem moralische Entscheidungen entstehen können.
Ausgehend von der Frage nach der Grundlage moralischer Sätze wie “du sollst nicht töten”, stellt Arendt fest, dass bislang immer eine höhere Instanz herangezogen wurde, um solche Sätze zu legitimieren, wie ein Gott oder eine Institution. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts hat jedoch gezeigt, wie gefährlich dies ist – wenn nämlich höhere Instanzen wie Religionen und Kirchen wegfallen, oder wenn, wie in der Nazizeit, Institutionen die Grundlagen moralischer Entscheidungen ändern und dadurch ein ganzes Volk manipulieren. Wie also kann eine unabhängige Grundlage moralischer Entscheidungen aussehen, die Menschen befähigt ethisch-moralisch zu handeln?
Das Gewissen als Raum für Entscheidungen
Hannah Arendt verweist hierzu auf Sokrates, der schon früh erkannte, dass jeder Mensch in einer Art Zwangsgemeinschaft mit sich selbst lebt. Wir sind nicht eins, sondern mindestens zwei, wie wir unschwer erfahren sobald wir im Zwiegespräch mit uns selbst über etwas nachdenken. Dabei suchen wir nach Übereinstimmung mit uns selbst, denn mit uns selbst müssen wir lebenslänglich den Umgang pflegen. Sie beschreibt das Gewissen daher als einen Raum, in dem diese Suche nach innerer Stimmigkeit auf dem Weg zu einer Entscheidung stattfindet.
Das Denken erweitern
Das Denken ermöglicht es uns, Gewissheiten zu hinterfragen und Ideen weiterzudenken. Wir treten in einen selbstreflexiven Dialog mit uns selbst. Dieses Denken können wir erweitern, indem man nach Arendt “seine Einbildungskraft lehrt, Besuche zu machen”*. Solche Besuche bei anderen Standpunkten und beispielhaften Erfahrungen ermöglichen es uns, die wahrscheinlichen Konsequenzen einer Handlung zu verstehen und eine reflektierte Basis für unsere Urteile zu finden.
Die Rolle des Zeugen
Das Zusammenspiel des Denkens mit der Vorstellungskraft und dem Urteilen bildet die Grundlage des Gewissens, in dem jedoch nicht der Richter, sondern der Zeuge die entscheidende Rolle spielt: die Instanz, die eine Handlung bezeugt und mit der man leben muss, wenn niemand anders mehr da ist. Deswegen erfahren wir, dass es besser ist, mit anderen in Unstimmigkeit zu sein als mit uns selbst – und so wird auch unter schwierigen Bedingungen moralisches Handeln möglich.
Relevanz im digitalen Zeitalter
Die digitale vernetzte Welt konfrontiert uns mit neuen ethischen Herausforderungen. Durch die Distanz, die digitale Medien uns gegenüber dem persönlichen Kontakt ermöglichen, verschwindet das natürliche Korrektiv der direkten Wahrnehmung des anderen in der Interaktion. Wir schreiben Dinge, die wie möglicherweise nie persönlich sagen würden und sind im ständigen Reaktionsmodus. Gleichzeitig nehmen Apps und Portale für Bewertungen aller Art eine zunehmend wichtige Rolle ein. Plattformen wie Xing und kununu ermöglichen die Bewertung von Arbeitgebern, Google lädt zu Bewertungen von Dienstleistern ein, und unternehmensinterne Apps rufen zu direktem Feedback von Mitarbeitern untereinander per Mausklick und Emoticon auf – und das alles auf globalem Niveau.
Ethik und Selbstreflexion
In dieser Welt sind neue Grundlagen für ethisches Handeln erforderlich, die jenseits von räumlich und kulturell begrenzten Religionen, Gesetzen oder Weltanschauungen eine Orientierung geben. Hannah Arendts Gedanken zeigen uns einen Weg zu ethisch-moralischem Handeln aus der menschlichen Freiheit und aus einem eigenständigen Gewissen heraus; der Freiheit zu denken, zu reflektieren und in Übereinstimmung mit uns selbst zu urteilen und zu handeln.
Konkret bedeutet das, in regelmäßigen Abständen innezuhalten und das eigene Handeln zu reflektieren, zum Beispiel bevor der Senden-Button geklickt wird. Es bedeutet, sich immer wieder darüber bewusst zu werden, dass wir mit unserem Handeln und unserer Kommunikation Wirkung und Konsequenzen erzeugen. Es bedeutet, sich mittels der eigenen Vorstellungskraft in sich und andere hineinzuversetzen und aus dieser Perspektive heraus zu entscheiden.
Denk- und Gewissensräume in Unternehmen schaffen
Denken, Selbstreflexion und Vorstellungskraft sind Kompetenzen, die aktiv in Unternehmen und Institutionen kultiviert werden können, um den individuellen Gewissensraum zu stärken und eine Wirkung im Sinne einer moralischen Urteilsfähigkeit zu entfalten. Durch regelmäßigen Dialog, das heißt gemeinsames Nachdenken und Reflektieren über Team- und Hierarchiegrenzen hinweg kann im Unternehmen ein eigener “Gewissensraum” entstehen, der bei wichtigen Entscheidungen zu Rate gezogen wird. Ein solcher Gewissensraum kann die gesamte ethische Orientierung im Unternehmen unterstützen und diese in der Kultur fest verankern. Eine Dialogkultur im Unternehmen zu implementieren ist daher eine wichtige Voraussetzung und unbedingt empfehlenswert.
Individuell Beispiele setzen
Gleichzeitig kann jede und jeder von uns einen Beitrag leisten, um eine positive Aufwärtsspirale in Gang zu setzen. Denn wir orientieren uns nicht nur an Beispielen um zu urteilen, sondern setzen selbst mit unserem eigenen Urteilen und Handeln wiederum neue Beispiele, die anderen wiederum eine breitere Grundlage für ihre Entscheidungen liefern. In diesem Sinne übernehmen wir durch unser Denken und Handeln ethische Verantwortung für uns und andere. Hannah Arendt hat es in ihrem Denktagebuch treffend ausgedrückt:
Verantwortung heißt im Wesentlichen: wissen, dass man ein Beispiel setzt, dass andere “folgen” werden. In dieser Weise verändert man die Welt.*
Dies ist ein nachhaltiger Ansatz und eine hoffnungsvolle Ethik für das digitale Zeitalter. Erfahren Sie mehr darüber, wie Sie Ihre Reflexionskompetenz stärken und Potenziale entfalten können um den Herausforderungen unserer Zeit gerecht zu werden.
*zitiert nach Eva von Redecker, S. 95 und 101
Literatur: Eva von Redecker: Gravitation zum Guten. Hannah Arendts Moralphilosophie. Berlin 2013.